Künstlerin?
Schon als kleines Kind habe ich es geliebt, zu zeichnen und meine Fantasien auszudrücken. Im Kindergarten wollte ich „Scheißentrickzeichnerin“ werden. Ich liebte Comics, Zeichentrick und Cartoons: die bunten Farben, die starken Figuren, die Botschaften, die Fantasiewelten.
Ich konnte stundenlang mit Farben experimentieren, Fantasietiere malen, mit Kreide die Straße gestalten — alles an Bastelmaterialien probierte ich aus. Ob Papier, Ton, Kreide oder Stoff – alles wurde für mich zu einem Werkzeug.
Trotzdem kam es für mich nie infrage, Kunst zu studieren oder „Künstlerin“ zu werden. Ich komme aus einer klassischen Arbeiterfamilie. Der Weg schien vorgezeichnet: möglichst schnell arbeiten, autark werden, mich selbst finanzieren. Kreativität war etwas Schönes — aber nichts, womit man „etwas Richtiges“ erreichen konnte.
Um finanziell unabhängig zu werden und meine Eltern zu entlasten, fing ich mit 15 meine ersten Aushilfsjobs an: in der Dorfwirtschaft als Küchenhilfe, Zeitungen austragen, Küchenhilfe im Altenheim – alles gleichzeitig, neben der Schule, jedes Wochenende und manchmal auch unter der Woche. Wenn andere im Freibad waren, habe ich mein erstes Geld verdient. Ich wollte raus aus diesem Dorf, raus aus den einseitigen Geschichten. Unter alldem litt natürlich meine schulische Leistung. Ich musste mich entscheiden. Ich sah den Weg für ein Studium nicht für mich bestimmt. Ich wusste: Ich muss arbeiten, damit ich überleben kann.
Durch die Wirtschaftskrise 2009, mein schlechtes Fachabitur und um meinen Eltern einen Seelenfrieden zu geben, beschloss ich, Krankenpflegerin zu werden. Ich zog nach Köln ins Schwesternwohnheim, begann die Ausbildung und stellte schnell fest: Das Arbeiten im Krankenhaus war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Der enorme Zeitdruck, die Maschinerie, der Pflegenotstand, emotionale Herausforderungen, sexuelle Übergriffigkeiten, die Konfrontation mit dem Tod — ich konnte den Menschen nicht das geben, was sie wirklich gebraucht hätten. Und ich spürte, wie mich das innerlich zerfraß. Ich fühlte mich fehl am Platz, auch weil mir die Möglichkeit fehlte, mich kreativ auszuleben. Ich fühlte mich wieder eingesperrt, in einem Kreislauf, in einem System.
Also schmiss ich hin. Ich fühlte mich wie ein Loser, weil ich mich einfach nicht in diesem System zurechtfand. Was stimmte denn nicht mit mir? Über Nacht brauchte ich einen neuen Job, damit ich in Köln bleiben konnte. Ich wollte auf keinen Fall zurück ins Dorf. Vor allem nicht als gescheiterte Tochter. Über Bekannte und Umwege bekam ich einen Job als Thekenkraft in einer damaligen Szenebar. Dort lernte ich zum ersten Mal Menschen kennen, die so waren wie ich: kreativ, eigen, mit einem Blick für das, was jenseits von Arbeit und Konvention lag. Menschen, die in die große Stadt gekommen waren, um ihre Träume zu leben, sich zu entfalten und frei zu sein. Zum ersten Mal fühlte ich mich angekommen. Zum ersten Mal dachte ich: Du bist nicht verrückt, weil du nach etwas anderem strebst. Du bist nicht falsch, weil du dich künstlerisch ausleben willst. Dein Wunsch zählt. Du musst kein Arbeiter sein, um in dieser Gesellschaft etwas zu werden.
Diese Bubble hat mir Türen geöffnet, für die ich bis heute dankbar bin. Dort lernte ich auch meinen Partner kennen, der ebenfalls aus einem Arbeiterhaushalt kam und insgeheim davon träumte, Musiker oder Synchronsprecher zu werden. Auch für ihn war das nie eine Option gewesen — „damit verdient man doch kein Geld“, hatten wir beide von zu Hause gelernt.
Über die Jahre wurde mir immer klarer: Ich bin ein zutiefst kreativer Mensch. Das ist es, was mich glücklich macht. Und so entschied ich mich, nachdem ich die Bar verließ, im Einzelhandel anzufangen — in einem dekorativen Einrichtungsgeschäft. Ich merkte schnell, wie sehr mir das Dekorieren, das Schaffen von Fantasiewelten für andere, Spaß machte. Also begann ich eine Ausbildung zur Gestalterin für visuelles Marketing.
Diese Ausbildung war eigentlich sehr vielfältig. Auf der einen Seite stand die Praxis: dekorieren, arbeiten im Geschäft, mit Farben und Formen spielen. Auf der anderen Seite der schulische Teil: digitales Zeichnen, technisches Zeichnen, Farblehre, Verkaufspsychologie, Marketingstrategien, PR-Management, Raumgestaltung. Ich bekam Einblicke in so viele verschiedene Themenbereiche, was unglaublich spannend war.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine Kooperation mit einem Museum, die für mich persönlich ein riesiger Erfolg war. Wir sollten zu verschiedenen historischen Epochen Skulpturen entwerfen, die typische Eigenschaften dieser Zeit widerspiegeln. Ich entschied mich für die Gründerzeit: Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung Fahrt aufnahm, Massenproduktion möglich wurde, die Stahlindustrie boomte, der Eiffelturm gebaut wurde.
Je mehr ich über diese Epoche las, desto mehr begriff ich, wie kritisch sie auch war — wie sehr dieser Drang nach Kapital und Technik den Grundstein für vieles legte, was heute falsch läuft. Also gestaltete ich meinen Kopf nicht stilistisch, sondern sozialkritisch. Eigentlich komplett am Auftrag vorbei. Und trotzdem wurde mein Werk für die Ausstellung ausgewählt — dank einer unterstützenden Lehrerin, die verstand, was ich ausdrücken wollte.
Wir durften die Ausstellung selbst mitkuratieren, zusammen mit dem Museumsteam überlegen, wie unsere Arbeiten präsentiert werden. Zum ersten Mal stand etwas, das ich selbst erschaffen hatte, in einem Museum. Zum ersten Mal blieben Menschen vor meinem Werk stehen, interpretierten, sahen etwas darin. Ich spürte, wie meine Arbeit Gedanken anstoßen konnte — und das ließ mich schweben. Das war der Moment, in dem ich begriff: Das ist meine Leidenschaft. Das bin ich.
Aber es waren immer nur kleine Brocken, Fragmente von Wissen — und in der Realität wenig wert, wenn man damit wirklich Fuß fassen wollte. Denn inzwischen hatte die Digitalisierung den Markt verändert. Photoshop, Illustrator, digitale Layouts waren plötzlich Standard. Doch all das war für mich nur in der Schule möglich gewesen. Ich konnte mir keinen Mac leisten, keine teure Adobe-Lizenz, kein professionelles Zubehör, um das zu Hause auszuprobieren. In meinem Betrieb wurde es auch nicht genutzt — da ging es mehr um die Praxis. Zudem fehlte mir einfach die Zeit.
Das war frustrierend: Ich wollte gestalten, ich konnte gestalten — aber ich stieß an Grenzen, die nichts mit Talent, sondern mit Geld zu tun hatten. Für viele Jobs hätte ich noch mehr Qualifikationen gebraucht, vielleicht sogar ein Studium, aber das konnte ich mir nicht leisten. Ich musste immer Geld verdienen. Es blieb mir nie die Möglichkeit, einfach mal stehenzubleiben, mich auszuprobieren, mich frei zu entfalten. Diesen Gedanken habe ich mir nicht erlaubt. Ich war im Überlebensmodus.
Dieses System, das von einem erwartet, sich zuerst zu versorgen, bevor man seiner Leidenschaft folgt, hat mich so oft ausgebremst. Es bremst mich bis heute aus. Und das tut weh. Weil ich weiß, dass ich etwas zu geben habe. Dass ich mit meiner Kreativität etwas bewirken kann. Und doch immer wieder an diesen unsichtbaren Grenzen stehe.
Gerade dann, als die Corona-Pandemie kam, spürte ich das wieder ganz deutlich. Die Geschäfte waren geschlossen, mein Beruf lag still, ich saß zu Hause. Diese Phase der Unsicherheit, der Infragestellung so vieler Systeme, brachte mich dazu, mich intensiv mit Politik, mit Gesellschaft, mit den Mechanismen hinter all dem auseinanderzusetzen. Ich wollte verstehen, was gerade passiert.
Zum ersten Mal seit Langem nahm ich wieder Pinsel und Farben zur Hand, begann zu malen. Ich probierte neue Materialien aus — Trockenton, weil ich keinen Brennofen hatte, formte daraus kleine Schälchen und Räucherstäbchenhalter. Ich experimentierte mit Resin, mit Kunstharz — auch wenn mir später bewusst wurde, wie problematisch dieses Material ist, wie umweltschädlich und eigentlich ungeeignet.
Doch in dieser Zeit, in der das Außen stillstand, konnte ich innen endlich wieder frei sein. Ich konnte Dokus schauen, lesen, mich kritisch mit dem auseinandersetzen, was um mich herum geschah. Ich konnte gestalten, ohne Vorgaben, ohne Verkaufszahlen im Nacken.
Und ich merkte: Immer dann, wenn ich beginne zu verstehen, wie dieses System funktioniert, immer dann, wenn ich spüre, wie chancenlos und begrenzt die Gesellschaft oft ist, entsteht in mir der Drang, das auszudrücken — in Bildern, in Objekten, in Gedanken.
Nach dieser Phase kam der Alltag zurück. Arbeiten, funktionieren, Geld verdienen. Und mit der Rückkehr des Systems rückte auch das Kreative wieder in den Hintergrund.
Der ständige Alltag, dieser Kreislauf, der einsetzt, sobald man aus dem Ausbildungssystem heraus ist — dieses: du arbeitest, verdienst Geld, arbeitest weiter — ohne Raum für etwas Eigenes — zermürbte mich. Viele Erfahrungen, die ich machen durfte, viele Situationen, die ich miterlebte und die zutiefst unfair waren, der ständige Kampf, nicht zu verbittern.
Ich wollte meine Gefühle, mein kritisches Hinterfragen, die Herausforderungen zum Ausdruck bringen. So entstanden meine Grimassen. Ich stellte fest, dass dieses haptische Arbeiten mit Ton etwas ungemein Therapeutisches hat. Etwas aus den eigenen Händen zu formen, es mit meinen Fragen, meinem Inneren zu verbinden, machte mir unglaublich viel Freude — gleichzeitig das Handwerk und die Herausforderung, etwas Neues zu lernen.
Ich sah immer öfter Bilder, die mit künstlicher Intelligenz erschaffen wurden — wunderschöne, atmosphärische Räume, die ich so noch nie gesehen hatte. Zunächst dachte ich, das seien aufwendige 3D-Renderings oder Photoshop-Meisterwerke. Ich fragte mich: Wie kann man so etwas erschaffen? Ich ärgerte mich, dass ich nie die Zeit gefunden hatte, mich mit digitalen Zeichenprogrammen auseinanderzusetzen.
Auf Social Media sah ich immer öfter Bilder von Künstler:innen, die KI nutzten, um neue visuelle Welten zu erschaffen. Sie erklärten, wie sie damit arbeiteten — etwas, das vorher für mich völlig unverständlich war. Endlich konnte ich das, was ich immer wollte, auch ohne technisches Know-how tun: Räume und Bilder erschaffen, nur mit Worten, ohne Ressourcen zu verschwenden oder teure Software zu beherrschen — so dachte ich zumindest zu diesem Zeitpunkt.
Ehrlich gesagt: Ich hatte keine Ahnung, was ich tat, lud mir verschiedene Apps herunter, gab meine Texte ein und generierte wie wild Bilder. Natürlich sahen die Ergebnisse noch lange nicht so aus wie die Werke, die ich von internationalen Künstler:innen kannte. Doch nach und nach kamen bessere Tools auf den Markt. Ich schaute Dokus, wollte verstehen: Was ist KI eigentlich? Was tue ich hier? Ist das überhaupt meine kreative Leistung? Stehle ich etwas? Woher kommen die kritischen Stimmen?
Ich merkte, dass in der Gesellschaft ein enormer Widerstand gegenüber dem entstand, was ich da machte. Viel Unverständnis, viel Kritik. Aber warum?
Ich fing an, mich kritisch mit KI auseinanderzusetzen. Mit den Schattenseiten: autonome KI-Waffensysteme, Cyberkriminalität, digitaler Kolonialismus, politische Manipulation, Ressourcenverbrauch. Die Liste ist lang, was für negative Konsequenzen von künstlicher Intelligenz ausgehen.
Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Auf der einen Seite hilft mir KI, eröffnet mir Werkzeuge und Möglichkeiten, die ich früher nicht hatte. Ich habe darin meine eigenen Wege gefunden, meine Gedanken und Ideen sichtbar zu machen.
Auf der anderen Seite kann ich sie nicht mit klarem und freiem Verstand nutzen, ohne zu wissen, dass damit auch Ausbeutung Verbunden ist. Dass damit Fragen von Moral und Ethik einhergehen, die wir nicht einfach ausblenden dürfen. Wer zahlt für diesen Fortschritt? Wessen Arbeit steckt dahinter? Wessen Lebensgrundlagen werden dafür verbraucht?Es ist wirklich schwierig eine Balance zu finden, und dennoch sehe ich die Konzerne in der maßgeblichen Verantwortung.
Für mich bedeutet Kunst, mich selbst auszudrücken. Sie gibt mir die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Problematiken und Systeme sichtbar zu machen, die mir fehlerhaft erscheinen. Kunst schafft für mich Räume, in denen ich unabhängig sein kann — unabhängig von Arbeitgebern, Erwartungen, Vorgaben. Sie ist für mich nicht nur Ausdruck, sondern auch Widerstand: gegen das Funktionieren, gegen das Schweigen, gegen das Unsichtbarsein. Kunst ist mein Weg, frei zu sein.